Das Reichsversicherungsamt in der Zeit des Nationalsozialismus
Das Forschungsprojekt wurde in Auftrag gegeben vom Bundesamt für Soziale Sicherung.Seit rund zwei Jahrzehnten lassen viele Institutionen des Bundes ihre NS-Vergangenheit intensiv aufarbeiten. Dies betrifft neben zahlreichen Bundesministerien auch andere Institutionen wie den Bundesnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz oder im Justizbereich die Bundesanwaltschaft und den Bundesgerichtshof, die ebenfalls alle unabhängige Stellen zur historischen Aufarbeitung der NS-Zeit berufen haben.
Diese wichtige Arbeit möchte nun auch das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS), mit dem Ziel einer wissenschaftlichen Studie zur Aufarbeitung des Handelns ihrer Vorgängerbehörde, des Reichsversicherungsamtes (RVA) im Institutionengefüge der NS-Diktatur in Form einer Monografie fortsetzen. In dem interdisziplinären Forschungsvorhaben unter Leitung von Prof. Dr. Friedrich Kießling und Prof Dr. Laura Münkler soll das Agieren des Reichsversicherungsamtes in seiner Rolle als Rechtsaufsichts- und Mitwirkungsbehörde sowie als letzte Instanz in Rechtsstreitigkeiten während der Zeit des Nationalsozialismus erforscht werden. Dazu werden insbesondere die Institutionengeschichte, die Sachpolitik, die Personalpolitik und das leitende Führungspersonal sowie die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes im Fokus stehen.
Institutionengeschichte
Im Rahmen der Institutionengeschichte werden zunächst der Behördenaufbau und dessen Veränderung 1933 sowie in den Folgejahren mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Folgen des Gesetzes vom Juli 1934 inklusive der daraus resultierenden Kompetenzzuwächse untersucht. Eine weitere Zäsur stellt der Kriegsausbruch dar, der sowohl eine Reduktion der Arbeitslast durch Verschlankung interner Prozesse als auch eine Expansion der Zuständigkeiten in den angegliederten und besetzen Gebieten sowie den Einsatz von sogenannten Fremd- sowie von Zwangsarbeitern mit sich brachte.
Außerdem sind die Einbindung des Reichversicherungsamtes ins Institutionengefüge der NS-Diktatur, insbesondere dessen Verhältnis zu den nachgeordneten Landesversicherungsanstalten und die institutionellen Handlungsspielräume als dem Reichsarbeitsministerium gegenüber weisungsgebundene Behörde Gegenstand der Untersuchung. Schließlich muss die Frage bearbeitet werden, inwiefern man bei der bisher noch nicht untersuchten Verwaltungskultur des Reichsversicherungsamtes im Nationalsozialismus sich nach 1933 NS-Vorstellungen einer dynamisierten bzw. ideologisierten Verwaltung annäherte oder ob – wie die ältere Forschung nahegelegt hat – die grundsätzliche Beibehaltung des überlieferten Sozialversicherungssystems auch eine Kontinuität im Verwaltungshandeln bedeutete. Dieser Aspekt ließe sich sowohl für die internen Abläufe als auch für das Verhalten der Behörde nach außen untersuchen.
Sachpolitik
Im Vordergrund der sachpolitischen Analyse steht die Frage, welche Rolle das Reichsversicherungsamt bei der Politisierung und „Biologisierung“ sowie nicht zuletzt der Ökonomisierung des Sozialversicherungssystems im Nationalsozialismus spielte und welchen Beitrag es damit zur NS-Verfolgungspolitik leistete. Dabei wird insbesondere untersucht, welche inhaltlichen Handlungsspielräume das Amt und seine Mitarbeiter besaßen, wie sie diese ggf. nutzten und inwieweit die Handlungen des Amtes eher als reaktiv oder aktiv-initiativ zu beschreiben sind. Insgesamt gilt es, die Rolle der Behörde bei der Umgestaltung des Sozialversicherungssystems im Sinne der NS-Politik und der NS-Ideologie deutlich zu machen.
Leitende Personen/ Personalpolitik
Erstmalig soll eine systematische Untersuchung des leitenden Personals mit Fokus auf den höheren Dienst erfolgen. Dies umfasst neben den Karriereverläufen und formalen Mitgliedschaften in NS-Organisationen auch, soweit dies möglich ist, ideologische Nähe zum Nationalsozialismus sowie die aktive Umsetzung von dessen Zielen. Dazu werden insbesondere die Auswirkungen und Ausführungen des Gesetzes vom 7. April 1933 zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ auf behördlicher und persönlicher Ebene überprüft, um Prozesse der Selbstgleichschaltung, ideologische (Teil-)Identitäten oder tatsächliche Karrierezwänge ebenso wie widerständiges Verhalten zu identifizieren.
Rechtsprechung
Die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes ist bisher nicht systematisch in den Blick der (rechts-)historischen Forschung gekommen. In methodischer Anlehnung an vergleichbare Studien zu Gerichten, werden die gerichtlichen Entscheidungen des Reichsversicherungsamts daraufhin beleuchtet, inwieweit sie als von nationalsozialistischer Ideologie geprägt anzusehen sind und, sofern trotz teils erfolgter Aktenvernichtung möglich, dieser Befund quantitativ wie qualitativ untermauert, um auf diese Weise diejenigen Felder zu identifizieren, die sich einer Ideologisierungen gegenüber als besonders anfällig erwiesen. Zugleich werden die Entscheidungen auf ihren rechtsschöpfenden Charakter hin befragt und beurteilt, inwiefern diese zugunsten der Versicherten oder - wie es aus anderen Gerichtszweigen bekannt ist - zur weiteren Verschärfung des Sozialrechts im Sinne der NS-Ideologie genutzt wurden. In diesem Rahmen wird zugleich der Umgang der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes mit verschiedenen zentralen Begrifflichkeiten des Sozialversicherungsrechts analysiert.
Das Forschungsprojekt ist auf drei Jahre angelegt. Neben Prof. Münkler und Prof. Kießling als Projektleitern sind als wissenschaftliche Mitarbeiter Max Schuckart und Johannes Pötz an der Durchführung beteiligt. Ein wissenschaftlicher Beirat wird die Forschungsarbeiten zusätzlich unterstützen.
Kontakt:
Prof. Dr. Laura Münkler
Adenauerallee 24-42
53113 Bonn | Prof. Dr. Friedrich Kießling
Konviktstraße 11
53113 Bonn |